Realität statt Mythos: 3 Wahrheiten über das Schreiben in der Wissenschaft
Ich bin eine Freundin von klaren Worten. Auch und gerade in meiner Arbeit als Schreibcoach für WissenschaftlerInnen.
Und zuletzt sind mir einige Mythen über das wissenschaftliche Schreiben untergekommen, mit denen dringend einmal aufgeräumt werden sollte. In diesem Artikel nehme ich mir drei davon zur Brust und zeige dir, warum du nicht alles glauben solltest, was du in der Wissenschaft hörst!
Bist du bereit für die Wahrheit? 😉
In diesem Artikel zeige ich dir:
- dass wissenschaftliche Schreibkompetenz in Wahrheit viel mehr Handwerk als Talentfrage ist,
- an welchen Orten seriöse, wissenschaftliche Texte entstehen können
- und warum du keine ganzen Tage an ungestörter Arbeitszeit benötigst, um in deiner Dissertation erkennbare Fortschritte zu machen.
Schreibmythos 1: Wissenschaftlich Schreiben kann man oder eben nicht.
Im deutschsprachigen Universitätsraum spukt seit jeher ein Gespenst umher – die Überzeugung, dass wissenschaftliche Schreibkompetenz vor allem Talentsache sei. Den einen sei die Begabung zum Schreiben eben in die Wiege gelegt. Alle anderen seien dazu verdammt, auf ewig – bestenfalls mittelmäßige – Texte zu produzieren.
Eine Geisteshaltung, die sich hartnäckig hält – und das, obwohl die moderne Schreibforschung schon lange gezeigt hat, dass Schreiben sehr viel weniger Talent als praktisches Handwerk ist.
Tatsächlich geht es nämlich beim wissenschaftlichen Schreiben um Kompetenzen, die grundsätzlich jede/r erlernen und verfeinern kann.
Schreiben können wir nicht, Schreiben erfahren wir.
Dafür braucht es (unter anderem)
- Verständnis über wissenschaftliche Texte und ihre Anforderungen
- Wissen darüber, wie wissenschaftliche Texte entstehen und wie wir als AutorInnen den Weg vom leeren Blatt bis zum abgeschlossenen Text zielgerichtet steuern können
- Klarheit über die Aussagen, die wir in einem Text transportieren wollen
- Mut, mit unseren Texten innovative Ideen zu entwickeln und Position zu beziehen
- Bewusstsein über leserInnenorientierte Textgestaltung, durch die unsere Texte auch für andere erst richtig klar, nachvollziehbar und überzeugend werden
- konstruktive Feedbackschleifen, die uns eine fruchtbare Außenperspektive auf unsere Texte liefern
- und letztlich: viel Übung und Erfahrung mit wissenschaftlicher Textproduktion, über die wir schrittweise immer besser beim Schreiben werden.
Dass diese vielfältigen Einflüsse auf die Entwicklung von wissenschaftlicher Schreibkompetenz vielen nicht bewusst sind, hat seinen Grund sicher (auch) darin, wie im deutschsprachigen Universitätsraum über Jahrzehnte wissenschaftliches Schreiben gelehrt wurde – in Wahrheit nämlich kaum bis gar nicht.
Aber genau dieses Bewusstsein braucht es, um zu erkennen: wissenschaftliches Schreiben zu erlernen und zu verfeinern ist ein PROZESS – für jedeN von uns!
Jede neue Textaufgabe wird an dich als AutorIn ganz eigene Herausforderungen stellen. Manche Texte werden dir besser von der Hand gehen, andere werden dich zum Haare-Raufen bringen. Auf manche Texte wirst du Lob erhalten, auf andere Kritik.
Und weder gibt es „Genies“, die wissenschaftliches Schreiben immer und ausschließlich als freudvoll und bereichernd erleben. Noch geborene „Schreib-Versager“, die sich auf ewig hoffnungslos durchs Schreiben quälen müssen.
Du willst deinen ganz individuellen Schreibtyp als WissenschaftlerIn herausfinden und den Schreibprozess deiner Dissertation von nun an mit Leichtigkeit meistern?
Schreibmythos 2: Seriöse, wissenschaftliche Schreibarbeit wird an einem eigens dafür vorgesehenen Arbeitsplatz erledigt.
Als Doktoratsstipendiatin war ich viele Jahre lang in der privilegierten Situation, ein Büro an der Uni mein Eigen nennen zu dürfen. Ein riesiger Schreibtisch, unzählige Kästen, Fächer und Schubladen für meine Bücher und Unterlagen, ein 27 Zoll iMac – ganz unbestritten das Eldorado einer und eines jeden Promovierenden.
Und mit der entsprechenden Erwartung an hochkomplexe Geistesergüsse, die dieser Raum in mir hervorrufen sollte, kam ich auch jeden Morgen ins Büro.
Was ich dann tatsächlich dort gemacht habe: stundenlang prokrastinieren und fast jeden Abend mit der nagenden Enttäuschung nach Hause fahren, heute wieder kaum bis gar nichts geschafft zu haben. 🙁
Ganz ehrlich: ich will mir gar nicht ausmalen, wie viele Stunden ich in diesem Büro zugebracht habe und tatsächlich keinen Schritt in meinem Dissertationsprojekt vorangekommen bin – und das, obwohl doch hier vermeintlich optimale Arbeitsbedingungen herrschten!
Erst als ich mir nach Jahren (!) eingestanden habe, dass ich hier in diesem Büro einfach nicht gut arbeiten konnte, habe ich mich bewusst nach Alternativen umgesehen. Und weißt du, wo letztlich ein Großteil meiner Dissertation entstanden ist?
Im Kaffeehaus, im Park unter Ahornbäumen, im Zug, im Kloster, in Hotels mit lauschigem Kaminzimmer und an vielen anderen Orten.
Auch das Schreiben in Bibliotheken habe ich immer bewusster gestaltet:
Heute lieber die holzvertäfelte Fachbibliothek der Germanistik mit ihren fast schon kitschig-altmodischen Tischleuchten aus Gusseisen und dunkelgrünem Glas?
Lieber der helle, moderne Lesesaal der Nationalbibliothek mit Klimaanlage?
Oder eine der langen Tischreihen in der Hauptbibliothek der Uni, an denen so viele Studierende Seite an Seite arbeiten, dass die Atmosphäre einem emsigen Ameisenbau gleicht?
Jeden Tag habe ich mich aufs Neue davon leiten und inspirieren lassen, welche Umgebung mich heute optimal in meiner Konzentration unterstützen könnte und bin dann zielgerichtet genau dort hingefahren.
Und erst jetzt, als ich alle diese Alternativen zu meinem Büro erkannt hatte, konnte ich je nach Tagesverfassung und anstehender Tagesaufgabe den passenden Ort für meine Arbeit wählen. (Danach hatte ich übrigens nie wieder mit Prokrastination in der Promotion zu kämpfen.)
Auch dir kann ich nur raten: gesteh dir zu, einmal verschiedenste Räume und Orte auszuprobieren, die dich in deiner Arbeit inspirieren könnten und an denen du produktiv und mit Freude an deinem wissenschaftlichen Projekt vorankommst.
Wenn DU eben im Waschsalon hochkonzentriert und effizient mit deiner Dissertation vorankommst, während in der Bibliothek nur geistiger Stillstand herrscht – was sollte daran grundsätzlich falsch sein?!
Schreibmythos 3: Wissenschaftliches Schreiben braucht lange, ungestörte Arbeitszeit am Stück.
„Wenn ich nicht mindestens den halben Tag ungestört Zeit für meine Dissertation habe, fange ich erst gar nicht an.“
Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz schon gehört habe. Und ja, auch ICH war lange davon überzeugt, dass ich nur in ergiebige geistige Vertiefung kommen könnte, wenn ich unbegrenzt lange Arbeitszeit am Stück zur Verfügung hatte.
Diese Erwartungshaltung ist auch nicht weiter verwunderlich: denn viele Promovierende kostet es regelmäßig viel Zeit und Kraft, überhaupt in die konzentrierte Arbeit an ihrem Projekt hineinzufinden und den Faden des jeweils letzten Arbeitstages wieder aufzugreifen.
Schritt Eins bedeutet für sie fast immer, erst einmal zu rekonstruieren, an welchem Textteil oder in welcher Aufgabe die Arbeit zuletzt unterbrochen wurde und wie sie von hier aus sinnvoll weiter fortgesetzt werden könnte.
Das kostet wertvolle Zeit – und schneller als erwartet sind so wieder einmal 45 Minuten nur mit „Aufwärmübungen“ verronnen.
Kein Wunder, dass viele Promovierende meinen, mit einem Zeitfenster von nur einer oder zwei Stunden ohnehin keine erkennbaren Schritte in ihrem Projekt vorankommen zu können – und es dann lieber gleich sein lassen.
Auch ich selbst musste für diese Herausforderung erst eine Lösung entwickeln, als ich irgendwann neben einem Teilzeitjob nur mehr vereinzelte Stundenfenster einer Woche für meine Dissertation zur Verfügung hatte. Ganze Tage nur für die Diss waren jetzt einfach nicht mehr.
Und plötzlich fiel mir auf: tatsächlich arbeitete ich jetzt effizienter als je zuvor!
Anstatt mich erst einmal zwei Stunden lang halbherzig in mein Projekt einzudenken, musste ich nun aus kleinsten Zeitfenstern das Maximum herausholen. Dafür – das wurde mir schnell klar – benötigte ich:
- einen umfassenden Überblick über mein Gesamtprojekt und die einzelnen Schritte und Aufgaben, die hier auf mich warteten.
- eine sinnvolle Reihung, welchen Aufgaben ich mich priorisiert widmen müsste und was noch warten könnte.
- eine glasklare Intention, welche konkrete Projektaufgabe ich hier und heute in Angriff nehmen wollte.
Dieses klar strukturierte Vorgehen ermöglichte mir nun, in einem Zeitfenster von nur einer oder zwei Stunden ein ausgewähltes Paper zu lesen und meine Lesenotizen sowie ein kurzes Abstract dazu festzuhalten. Eine halbe Seite an Rohtext zu einem klar definierten Inhalt zu verfassen. Oder etwa 10 Seiten meines Textdokuments korrekturzulesen.
Je konkreter ich meine Aufgaben heruntergebrochen hatte, desto effizienter konnte ich jetzt verschieden große und kleine Zeitfenster nutzen, die sich mir im Lauf einer Woche für die Arbeit an meiner Dissertation eröffneten. Und die Arbeit an jeder dieser kleinen Baustellen zahlte ultimativ auf mein Dissertationskonto ein und brachte mich Tag zu Tag einen Schritt näher in Richtung Abschluss – ein absoluter Game-Changer für meine Produktivität und Motivation!